Ein KI-Experiment zeigt: Wie Medien-Bias unsere Sicht auf Social Media verzerrt

Ein KI-Experiment zeigt: Wie Medien-Bias unsere Sicht auf Social Media verzerrt

Juni 3, 2025 Aktuell Blog Soziale Arbeit Wissen 0

Ich habe wieder mal mit KI experimentiert: Um eine neue Funktion von Perplexity zu testen, habe ich gefragt, „welchen Einfluss Social Media auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen haben“. Was dabei herauskam, war mehr als nur eine Antwort auf diese brennende Frage – es war eine Lektion darüber, wie algorithmische Systeme, Medienberichterstattung und wissenschaftliche Wahrheit aufeinanderprallen.

Das Experiment: Wenn KI die Medienlandschaft spiegelt

Schritt 1: Die erste Recherche – ein düsteres Bild

Ich startete mit einer simplen Frage an die KI: „Welchen Einfluss haben Social Media auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen?“ Die Antwort war alarmierend und einseitig. Die KI präsentierte mir eine Liste von Risiken, die jeden Elternteil in Panik versetzen würde:

  • Starker Anstieg problematischer Social-Media-Nutzung
  • Cybermobbing mit gravierenden Folgen
  • Verstärkte Risiken für psychisch vorbelastete Jugendliche
  • Zusammenhang mit Depressionen und Angststörungen
  • Schlafstörungen und Leistungsabfall
  • Zunahme von Hoffnungslosigkeit und sozialem Rückzug

Positive Aspekte wie soziale Unterstützung oder Identitätsbildung kamen nur am Rande vor. Doch hier begann das eigentliche Experiment: Ich hinterfragte die Quellen.

Die erste Erkenntnis: Medien-Bias ist algorithmisch verstärkt

Was ich entdeckte, war ernüchternd: Die KI hatte ihre Informationen hauptsächlich aus Presseartikeln, Krankenkassen-Studien und populärwissenschaftlichen Sekundärquellen bezogen. Warum passiert das? Die strukturellen Gründe sind so simpel, wie problematisch:

Suchmaschinen bevorzugen SEO-optimierte, leicht zugängliche Inhalte. Wissenschaftliche Primärstudien verschwinden oft hinter Paywalls, während Presseartikel mit griffigen Headlines Klicks generieren – und Klicks bedeuten Werbeeinnahmen. Journalisten haben ein ökonomisches Interesse an aufmerksamkeitsstarken Geschichten, nicht an differenzierten wissenschaftlichen Befunden.

Das Ergebnis: Die Risiken von Social Media werden systematisch überzeichnet, während nuancierte Forschungsergebnisse im Hintergrund verschwinden.

Schritt 2: Methodenkritik – die Schwächen entlarven

Ich konfrontierte die KI mit einem kritischen Hinweis: Die meisten zitierten Studien basieren auf Selbstauskunft und werden oft von Krankenkassen finanziert. Ausserdem zeigen sie meist nur Korrelationen, keine echten Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf.

Die KI reflektierte daraufhin die methodischen Schwächen:

  • Selbstauskunftsdaten sind unzuverlässig: Menschen überschätzen systematisch ihre Bildschirmzeit und erinnern sich selektiv an ihre Erfahrungen (Recall Bias)
  • Korrelation ist nicht Kausalität: Wenn depressive Jugendliche mehr Zeit in sozialen Medien verbringen – was ist dann Ursache, was Wirkung?
  • Interessenkonflikte: Krankenkassenfinanzierte Studien können dramatische Zusammenhänge überbetonen, da dies ihre Präventionsarbeit legitimiert

Schritt 3: Der Wendepunkt – hochwertige Primärstudien

Jetzt wurde das Experiment richtig spannend. Ich lieferte der KI eine Liste internationaler, methodisch starker Primärstudien: (z.B. Orben & Przybylski 2019, Hall 2024, Valkenburg 2022, Sanders 2024) und weitere. Das Bild änderte sich dramatisch.

Die neuen wissenschaftlichen Befunde zeigten:

Die Effekte sind überraschend klein: Social Media erklärt meist weniger als 1% der Varianz in der psychischen Gesundheit. Das ist statistisch messbar, aber praktisch oft vernachlässigbar.

Nicht die Zeit, sondern die Art der Nutzung entscheidet: Problematische Nutzungsmuster wie exzessive Vergleiche oder Cybermobbing sind deutlich schädlicher als die reine Bildschirmzeit. Passive Nutzung – also das reine Konsumieren von Inhalten ohne Interaktion – korreliert eher mit schlechterem Wohlbefinden, während aktive Nutzung mit sozialer Interaktion sogar positive Effekte haben kann.

Keine Verschlechterung über die Jahre: Entgegen der medialen Darstellung gibt es keine Hinweise darauf, dass die negativen Effekte in den letzten Jahren zugenommen haben.

Schritt 4: Die Vertiefung – weitere empirische Evidenz

Ich ergänzte weitere relevante Studien (z.B. Boers 2019, Keles 2020, Ra 2018, Woods & Scott 2016, Shannon 2022, Vicente-Benito 2023) und WHO-Berichte. Die KI integrierte diese systematisch und differenzierte die Evidenz weiter. Das Fazit der hochwertigen Forschung: Längsschnittstudien zeigen kleine, aber signifikante Zusammenhänge zwischen Social Media und Depressivität, insbesondere bei problematischer Nutzung. Doch individuelle Faktoren, Kontext und die spezifischen Algorithmen, denen Jugendliche ausgesetzt sind, sind entscheidende Moderatoren.

Was dieses Experiment für Ihre Praxis bedeutet

Für Fachpersonen der Sozialen Arbeit

Individuelle Begleitung statt pauschale Warnungen: Die Forschung zeigt, dass nicht alle Jugendlichen gleich auf Social Media reagieren. Vulnerabilität, Geschlecht, soziales Umfeld und die Art der Nutzung moderieren die Effekte erheblich. Ihre Aufgabe liegt weniger in dramatischen Warnungen als im Erkennen problematischer Nutzungsmuster und der individuellen Begleitung.

Fokus auf problematische Nutzung: Statt Bildschirmzeiten zu zählen, sollten Sie nach den Mustern der Nutzung fragen. Vergleichen sich Jugendliche ständig mit anderen? Nutzen sie Social Media als dysfunktionalen Mechanismus zum Abbau von Stress oder Einsamkeit? Werden sie gemobbt oder ausgegrenzt?

Für Eltern

Qualität vor Quantität: Die Zeit, die Ihre Kinder online verbringen, ist weniger wichtig als die Art, wie sie diese Zeit nutzen. Sprechen Sie mit ihnen über ihre Online-Erfahrungen. Wie fühlen sie sich nach der Nutzung? Diese Gespräche sind wichtiger als das Zählen von Stunden.

Algorithmen im Blick behalten: Die spezifischen Inhalte, die Algorithmen Ihren Kindern vorschlagen, können die Effekte stark moderieren. Ein Bewusstsein für diese Mechanismen hilft beim Verständnis der individuellen Situation.

Die grössere Lektion: Warum kritisches Denken unverzichtbar bleibt

Mein Experiment zeigt: KI-Systeme sind mächtige Werkzeuge, aber sie reproduzieren die Verzerrungen ihrer Datenquellen. Sie können grosse Informationsmengen schnell strukturieren, doch erst durch kritische Expertise wird die Analyse wirklich valide.

Medienvermittelter Bias ist real: Die öffentliche Debatte wird stark von journalistischen Darstellungen und institutionellen Interessen geprägt. Presseartikel dominieren die Suchergebnisse, während methodisch hochwertige Primärstudien oft im Hintergrund bleiben.

Die besten Ergebnisse entstehen im Zusammenspiel: KI leistet starke Arbeit bei der Datenauswertung und -strukturierung. Doch erst durch kritische Hinweise, gezielte Ergänzungen und methodische Korrekturen durch Menschen mit Fachkenntnis wird die Analyse wirklich differenziert und valide.

Fazit: Differenzierung statt Dramatisierung

Mein Experiment zeigt: Social Media sind weder der Teufel noch die Lösung. Die hochwertige Forschung zeichnet ein wesentlich differenzierteres Bild als die mediale Berichterstattung. Die Effekte sind real, aber kleiner als oft dargestellt. Entscheidend sind individuelle Faktoren und die Art der Nutzung, nicht die schiere Zeit vor dem Bildschirm.

Für eine evidenzbasierte Praxis brauchen wir weniger Alarmismus und mehr methodische Sorgfalt – sowohl in der Wissenschaft als auch in der medialen Berichterstattung. Die Fähigkeit zur kritischen Bewertung von Quellen ist in einer Welt voller Informationen wichtiger denn je.

Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass Evidenz über Emotion siegt – zum Wohl der Jugendlichen, die wir begleiten.

Verwendete Studien:

Boers, E., Afzali, M. H., Newton, N. & Conrod, P. (2019). Association of Screen Time and Depression in Adolescence. JAMA Pediatrics, 173(9), 853–859. https://doi.org/10.1001/jamapediatrics.2019.1759

Böhm, K. (2012, Februar). Der depressive Mediennutzer. Eine explorative Studie zur Medienaneignung vor dem Hintergrund einer chronisch depressiven Erkrankung. Fakultät für Sozialwissenschaften u.

Hall, J. A. (2024). Ten Myths About the Effect of Social Media Use on Well-Being. Journal of Medical Internet Research, 26, e59585. https://doi.org/10.2196/59585

Jörren, H. L., Schmidt, H., Kaman, A., Ravens-Sieberer, U., Rumpf, H.-J. & Pawils, S. (2023). Mental Health im Kindesalter: der Einfluss von Mediennutzung, Erziehungsverhalten und elterlichem Stresserleben – eine Sekundärdatenanalyse von KiGGS- und BELLA-Daten. Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, 66(7), 784–793. https://doi.org/10.1007/s00103-023-03727-y

Karim, F., Oyewande, A. A., Abdalla, L. F., Chaudhry Ehsanullah, R. & Khan, S. (n. d.). Social Media Use and Its Connection to Mental Health: A Systematic Review. Cureus, 12(6), e8627. https://doi.org/10.7759/cureus.8627

Milton, A., Ajmani, L., DeVito, M. A. & Chancellor, S. (2023). “I See Me Here”: Mental Health Content, Community, and Algorithmic Curation on TikTok. Proceedings of the 2023 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems (S. 1–17). Gehalten auf der CHI ’23: CHI Conference on Human Factors in Computing Systems, Hamburg Germany: ACM. https://doi.org/10.1145/3544548.3581489

Odgers, C. L. & Jensen, M. R. (2020). Annual Research Review: Adolescent mental health in the digital age: facts, fears, and future directions. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 61(3), 336–348. https://doi.org/10.1111/jcpp.13190

Paulsen, R. (2024, November 19). Young people were becoming more anxious long before social media – here’s the evidence. The Conversation. Zugriff am 30.5.2025. Verfügbar unter: http://theconversation.com/young-people-were-becoming-more-anxious-long-before-social-media-heres-the-evidence-243738

Ramadhan, R. N., Rampengan, D. D., Yumnanisha, D. A., Setiono, S. B., Tjandra, K. C., Ariyanto, M. V. et al. (2024). Impacts of digital social media detox for mental health: A systematic review and meta-analysis. Narra J, 4(2), e786–e786. https://doi.org/10.52225/narra.v4i2.786

Sanders, T., Noetel, M., Parker, P., Del Pozo Cruz, B., Biddle, S., Ronto, R. et al. (2024). An umbrella review of the benefits and risks associated with youths’ interactions with electronic screens. Nature Human Behaviour, 8(1), 82–99. https://doi.org/10.1038/s41562-023-01712-8

Shannon, H., Bush, K., Villeneuve, P. J., Hellemans, K. G. & Guimond, S. (2022). Problematic Social Media Use in Adolescents and Young Adults: Systematic Review and Meta-analysis. JMIR mental health, 9(4), e33450. https://doi.org/10.2196/33450

Sticca, F., Brauchli, V. & Lannen, P. (2025). Screen on = development off? A systematic scoping review and a developmental psychology perspective on the effects of screen time on early childhood development. Frontiers in Developmental Psychology, 2. Frontiers. https://doi.org/10.3389/fdpys.2024.1439040

Teens, screens and mental health. (n. d.). . Zugriff am 3.6.2025. Verfügbar unter: https://www.who.int/europe/news/item/25-09-2024-teens–screens-and-mental-health

Valkenburg, P. M. (2022). Social media use and well-being: What we know and what we need to know. Current Opinion in Psychology, 45, 101294. https://doi.org/10.1016/j.copsyc.2021.12.006

Valkenburg, P. M., Meier, A. & Beyens, I. (2022). Social media use and its impact on adolescent mental health: An umbrella review of the evidence. Current Opinion in Psychology, 44, 58–68. https://doi.org/10.1016/j.copsyc.2021.08.017

Vincente-Benito, I. & Ramírez-Durán, M. D. V. (2023). Influence of Social Media Use on Body Image and Well-Being Among Adolescents and Young Adults: A Systematic Review. Journal of Psychosocial Nursing and Mental Health Services, 61(12), 11–18. https://doi.org/10.3928/02793695-20230524-02

Vuorre, M., Orben, A. & Przybylski, A. K. (n. d.). There Is No Evidence That Associations Between Adolescents’ Digital Technology Engagement and Mental Health Problems Have Increased.

Weigle, P. E. & Shafi, R. M. A. (2024). Social Media and Youth Mental Health. Current Psychiatry Reports, 26(1), 1–8. https://doi.org/10.1007/s11920-023-01478-w

Woods, H. C. & Scott, H. (2016). #Sleepyteens: Social media use in adolescence is associated with poor sleep quality, anxiety, depression and low self-esteem. Journal of Adolescence, 51, 41–49. https://doi.org/10.1016/j.adolescence.2016.05.008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert